Ich habe von Mai bis Juli 2025 ein halbes Tertial in der Allgemeinchirurgie bzw. kolorektalen Chirurgie an der Royal Victoria Infirmary verbracht.
Bewerbung:
Die Bewerbung erfolgt zunächst an den Consultant in der "Speciality" (Subspezialisierung der AllgCh), die einen interessiert. Manchmal findet man eine Mailadresse im Internet, ansonsten kann man einfach mit der zuständigen Sekretärin telefonieren. Möglich wären für ein chirurgisches Tertial z.B. Colorectal Surgery, Upper GI, Endocrine Surgery, Plastics usw.. Der weitere Bewerbungsverlauf erfolgt wie unten beschrieben, im Verlauf dessen bieten manche Consultants auch noch ein Vorgespräch an, in dem man eigene Erwartungen/Interessen formulieren und den Ablauf des "elective" grob besprechen kann.
Unterkunft:
Am besten direkt nach der Zusage auf die Suche gehen. Es gibt eine begrenzte Anzahl an Plätzen in der Staff Accommodation der Universität in unmittelbarer Nähe der Klinik (Website: Staff and Visitors Accomodation, Newcastle University). Diese kosten ca. 800 Euro im Monat und sind WGs mit geteilter Küche und Bad. Bei mir war diese Möglichkeit leider schon ausgebucht, jedoch hat mir die Universität (dieselben Ansprechpartner) ein Zimmer in einem Studentenwohnheim namens Bowsden Court angeboten. Dieses liegt etwas nördlicher im Stadtteil South Gosforth (gute Wohngegend), der aber mit der Metro sehr gut angebunden ist (Taktung alle 4-8 min, Fahrtdauer ins Zentrum/Klinik ca. 10 min). Es wird hierbei recht schnell eine verbindliche Zusage sowie die Überweisung der kompletten Mietkosten im Voraus verlangt: ca. 27€/Nacht, ca, 700€/Monat). Es sind En-Suite Zimmer mit eigenem Badezimmer, die Küche teilt man sich. Eine frühere Anreise (auch am Wochenende) ist möglich, wird jedoch berechnet.
Klinik:
Die Abteilungsstruktur in England ist etwas anders als in Deutschland, dies stellt jedoch kein Problem dar. Man ist zu Beginn eher mit seinem Consultant unterwegs, kann jedoch dann idR zu anderen Consultans/OPs/Fachgebieten rotieren und einen umfassenden Einblick erhalten. Wenn man nach England geht sollte einem klar sein, dass es die Rolle des PJlers dort so nicht gibt, man hat also keine festen Aufgaben auf Station oder im OP. Jedoch kann/darf man (je nach Consultant) mit etwas Eigenintiative einiges machen (Mithilfe Ambulanz, Assistenz im OP, wissenschaftlich arbeiten, etc.), man muss sich halt regen.
Der vermutlich größte Unterschied zu Deutschland ist: das gesamte Personal ist bis auf seltene Ausnahmen sehr freundlich und hilfsbereit, von der OP-Schwester an der Rezeption bis zum Head of Surgery. Man kann meist überall mit und wird nie schräg angeschaut oder gar schlecht behandelt.
Das operative Spektrum der Colorectal Surgery in der RVI als Akutkrankenhaus umfasst vor allem Notfälle (Appendizitis, Ileus, Divertikulitis, Cholezystitis), CED-Chirurgie (Ileocaecale Resektionen, Hemikolektomien, Panproktokolektomien,...), Fisteln, Abszessspaltungen usw.. Tumorchirurgie wird ebenso wie die hepatobiliäre Chirurgie eher am Freeman Hospital durchgeführt. Weiter gibt es an der RVI viel Upper GI Surgery (Magen & Oesophagus), Plastische Chirgurgie, Gynäkologie, Kinderchirurgie usw.. Man kann eigentlich in alle OPs reinschauen, die auf dem Plan stehen, einfach vorher kurz fragen. Wenn man möchte kann man auch regelmäßig mit an den Tisch.
Gute Consultants (subjektiv) in der kolorektalen Chirurgie sind Mr Brady (mein Consultant, freundlich, alles kann nichts muss), Mr Coyne (sehr nett, viel Freizeit), Mr Gallagher (erklärt sehr viel, humorvoll), Ms Randhawa (fachlich und menschlich top, lange in der Klinik). Auf Nachfrage kann man im Laufe des elective auch mal in die Upper GI oder andere Fachgebiete reinschauen.
Neben dem OP gibt es morgens auf Station die Visite (frühestens um 8 Uhr), Clinics (Ambulanz), Meetings (Tumborboard, Abdominal Wall Reconstruction, IBD) oder Endoskopien (machen dort zT die Chirurgen). Man kann sich relativ flexibel einteilen, was man wann machen möchte.
Bei Mr Brady besteht auch immer die Möglichkeit, in dessen Forschung (IBD) mitzuarbeiten und ein Paper zu veröffentlichen (klappt wohl recht zuverlässig).
Für mich war es summa sumarum eine geniale Möglichkeit ein breites Spektrum der Chirurgie zu sehen und nebenbei einen Einblick in ein anderes Gesundheitssystem zu erhalten.
Alltag:
Die Lebenshaltungskosten sind wechselkursbedingt ca. 20-30% höher als bei uns, bei Lidl kostet ein Wocheneinkauf aber ähnlich viel wie in Deutschland. Mittagessen kann man im Mitarbeiterbistro, ca. 6 Euro pro Mittagessen (Wrap 3€), leider nicht besonders abwechslungsreich. Mit einer Jacket Potato fährt man dort jedoch ganz solide.
Die Metro dort ist zuverlässig, sauber und kostet ca. 45 Euro für 4 Wochen (abhängig von der Anzahl der gebuchten Zonen). Mit dem ÖPNV kommt man im Großraum Newcastle jedoch gut von A nach B und in ca. 30 Minuten sogar ans Meer.
Freizeit:
Der Norden/Nordosten Englands ist diesbezüglich ein idealer Ausgangspunkt. Wer ein Auto besitzt tut gut daran, dieses mit zu bringen (Fähre Amsterdam-Newcastle). Sehr lohnenswert sind Ausflüge nach Glasgow (+ Loch Lomond, südliche Highlands, Scotch Distillery), Edinburgh (wahrscheinlich eine der schönsten Städte Europas), York (kleine, mittelalterlich geprägte, studentische Stadt), Durham (kleine Stadt eine halbe Stunde südlich, ideal für einen Tagesausflug) oder Lake District (für Wanderungen im Regen). Für Interessierte tut sich weiter eine Vielzahl an Landsitzen und Burgen auf: Alnwick Castle, Bamburgh Castle (von innen unspektakulär aber tolle Lage in der Landschaft), Cragside House, Beamish Museum usw.
Sehenswert sind weiter: Farne Islands (Bootstour), Whitley Bay (Pitch and Put-Platz am Meer), Tynemouth (Markt am WE), Holy Island, Northumbria National Park, Hadrians Wall (Housestead).
Das Wetter war im Mai/Anfang Juni noch recht kühl/bewölkt, teilweise Regen, wurde dann aber immer besser bei angenehmen Temperaturen zwischen 20 und 30 Grad. Es regnet insgesamt betrachtet jedoch deutlich weniger als erwartet (wenn dann in Schauern), windet jedoch aufgrund der Küstennähe eher mal.
Der Ruf des NHS ist in Deutschland nicht brilliant, daher war ich vom Standard der Klinik positiv überrascht. Dies mag jedoch auch darin begründet sein, dass die RVI ein sehr gut ausgestattetes Universitätsklinikum ist, auf dem Land sieht das sicher zum Teil anders aus.Insgesamt betrachtet war es für mich eine sehr bereichernde und lohnenswerte Zeit, die ich nicht missen möchte.
Bewerbung
Ich habe mich mit ca. einem Jahr Vorlaufzeit zunächst beim Consultant meiner Wahl beworben. Nach dessen Zusage bindet dieser die zuständige Koordinatorin der Universität ein (Emma Major). Die Bewerbungsvoraussetzungen sowie alle erforderlichen Unterlagen sind auf der Website (bzw. in einem dort verfügbaren Dokument) aufgeführt. Die Newcastle University bietet max. 8-wöchige "electives" an. Momentan sind Bewerbungen bzw. das Programm bis Anfang 2026 ausgesetzt.